Architekten erschaffen Bauwerke, die man sehen und anfassen kann. Programmierer hingegen entwerfen komplett neue Welten für die Gaming-Community. Und Computer Generated Imagery – kurz CGI – haucht sogar den visionärsten Filmideen Leben ein. Eine ganz neue Spezies von Architekten gibt es im Bereich Augmented Reality (AR): Sie kreieren virtuelle Bilder, um diese dann in die reale Welt einzuspeisen, und bringen so Science-Fiction in unseren Alltag. Von der innovativen Technologie profitieren schon jetzt zahlreiche Industrien. Einen Blick hinter die AR-Kulissen gewährten die Referenten der dritten Ausgabe unseres „TecTalks Digitale Transformation“.
Ob augmented, mixed, virtual, real oder digital: Realitäten gibt es heutzutage viele. Unter dem Label Extended Reality (XR) – oder auch Crossreality – verschmelzen alle Formen zu einem großen Ganzen.

Bei der dritten Ausgabe des TecTalks stand das Thema „Extended Realities“ im Fokus. (Bild: crossrelations)
Und XR ist gekommen, um zu bleiben – davon sind Diplomingenieur und Architekt Georgi Musev und Projektmanagerin Clara Zeiske von raumHOCH, einer Agentur für räumliche und digitale Kommunikation, überzeugt. Musev hat bereits vor mehr als 20 Jahren das Potenzial von XR erkannt und beschäftigt sich seitdem mit der räumlichen Inszenierung digitaler Inhalte und dem Design interaktiver Räume. Als Experte für Digitalisierung mit ausgewiesener Technologie-Expertise liegt sein methodischer Schwerpunkt auf XR-Storytelling, das sich mit der Verbreitung von Virtual und Augmented Reality auf dem Markt als neues Geschäftsfeld bei raumHOCH etabliert hat.
AR hat sich noch nicht etabliert
Im Zuge dessen hat Musev ein XR-Team zusammengestellt, in dem Architekten, Programmierer und Kommunikationsexperten ihre Fähigkeiten bündeln. Und genau hier wird’s kompliziert. Denn gebraucht werden Programmierer, die auch räumlich denken können, und Architekten, die digitales Verständnis mitbringen. Menschen mit diesen Fähigkeiten sind jedoch eine seltene Spezies. Das liegt vor allem daran, dass Universitäten noch keine adäquaten Studiengänge anbieten. Unternehmen, die sich auf XR spezialisiert haben, bleibt somit nichts Anderes übrig, als ihr Fachpersonal selbst auszubilden.
Im Fall von Augmented Reality besteht aktuell die Problematik, dass es sich noch um eine innovative Technologie handelt, die sich noch nicht am Markt etabliert hat. Anders als Virtual Reality, einer bereits anerkannten Technologie, fristet AR ihr Dasein derzeit im sogenannten „Death Valley of Innovations“.
Dort stranden zahlreiche vielversprechende neue Technologien, Dienstleistungen und Produkte spätestens nach Abebben der ersten großen Euphorie – und bleiben in den meisten Fällen auch dort. Musev ist davon überzeugt, dass AR hier eine der wenigen Ausnahmen ist, und stützt seine These mit folgenden Daten:
- Bereits jeder dritte Smartphone-Besitzer hat eine AR-App auf seinem Gerät installiert und weiß.
- Die Awareness der Begriffe aus dem XR-Kosmos liegen derzeit bei 90 Prozent.
- 2018 lag der AR-Marktwert bei vier Milliarden Dollar.
- Experten prognostizieren ein Marktwachstum von bis zu 56 Milliarden Dollar in den nächsten vier und bis zu 200 Milliarden Dollar in den nächsten zehn Jahren.
- Auch Big-Player wie Apple und Google setzen auf AR und haben 2018 bereits sieben Milliarden Dollar in die Entwicklung zahlreicher Produkte gesteckt.
Einstiegshürden sind nicht zu unterschätzen
Und doch steckt AR noch in den Kinderschuhen und es ist eine Menge Pionierarbeit vonnöten, um die Technologie massentauglich zu machen. Die technischen Einstiegshürden insbesondere bei industriellen Anwendungsbereichen sind dabei nicht zu unterschätzen. Zum einen ist es sehr aufwendig die nötigen Daten/Informationen bereitzustellen. Bestehende Manuals müssen AR-kompatibel aufbereitet werden. Zum anderen verfügen Industrieanlagen aufgrund ihrer Beschaffenheit oder unternehmenspolitischer Bestimmungen in den seltensten Fällen über eine digitale Infrastruktur – von WLAN oder Mobilfunk fehlt oft jede Spur. Hinzu kommt, dass die AR-Brillen noch nicht wirklich benutzerfreundlich sind, nicht ohne Kabel auskommen und die Akku-Leistung optimierungsbedürftig ist. Darüber hinaus ist das Sichtfeld sehr eingeschränkt und das Einpflegen von entsprechenden Content noch recht kompliziert. Da fährt man doch mit Power-Point oder schnöden Flyern deutlich besser, oder etwa nicht?
Um ein AR-Projekt zu realisieren, orientiert sich das Team von raumHOCH an den vier Stufen der digitalen Wertschöpfungskette:
- Zugang zu den Daten/Informationen
- Darstellung der Daten/Informationen
- Präsentation der Daten/Informationen
- Teilen der Daten/Informationen
All das lässt sich zwar auch mit Power-Point realisieren, jedoch mit einem erheblichen Mangel: Anders als bei AR sind die Daten weder interaktiv aufbereitet, noch werden sie in einen räumlichen Kontext gestellt.
Viele Industrien profitieren von AR
Doch welche Industrien ziehen einen Nutzen aus der neuen Technologie? Exemplarisch zu nennen sind hier der Fahrzeug- und Maschinenbau sowie die Medizin. In diesen Branchen steht vor allem eine Frage im Fokus: Wie können eigentlich verborgene Dinge sichtbar gemacht werden? In diesem Zusammenhang bieten Hologramme eine wertvolle Unterstützung, da durch sie Ärzte einen unverstellten Blick auf menschliche Organe und Fachkräfte in das Innenleben einer Maschine werfen können. Damit gestalten sich komplexe Operationen, Installations- sowie Instandhaltungsprozesse deutlich einfacher und effizienter.
In einer nicht mehr allzu fernen Zukunft müssen Ärzte womöglich gar nicht mehr vor Ort sein, um einen Patienten zu behandeln, sondern fungieren nur noch als Virtual Guides ähnlich dem Notarzt-Hologramm aus der TV-Serie Raumschiff Voyager. Eine lohnenswerte Methode insbesondere in Krisengebieten. Die US-Armee soll schon dran sein. In der Industrie kann diese Technologie beim Anlernen neuer Mitarbeiter hilfreich sein. Diese können nicht nur Trainingseinheiten selbstständig durchführen, sondern erhalten auch direkt ein Feedback, wie sie sich geschlagen haben.
Genau hier setzt die Kollaborations-App Vuforia Chalk an, die der zweite TecTalk-Referent Thorsten Laabs, Geschäftsführer der mdk GmbH, vorstellte. Die App des global tätigen US-Technologieunternehmens PTC ist nach eigenen Aussagen branchenführend in der AR-Technologie für Anwendungen auf den Betriebssystemen iOS und Android sowie AR-Brillen und bietet demnach drei Vorteile:
- Verbesserung der Servicequalität mittels Markierungen in Live-Ansichten, um Details hervorzuheben und Lösungen zu finden.
- Reduktion von Servicekosten: Erfahrene Mitarbeiter können mittels eines AR-Supports in Echtzeit zugeschaltet werden. So reduziert sich die Reparaturzeit und Reisekosten entfallen.
- Schnelleres Training des Service-Personals durch Fernbetreuung in Form von modernen digitalen Lernmethoden.
Vuforia bringt Mehrwerte in Produktion und Service
Bei einem Testlauf von Vuforia in 195 deutschen Betrieben kam heraus, dass Mehrwerte vor allem in zwei Bereichen auszumachen sind: im Herstellungsprozess und in der Instandhaltung bzw. im Bereich After-Sales. Die App sorgte für 30 bis 40 Prozent effizienteres Training, 50 Prozent Zeitersparnis beim Zusammenbau in der Produktion und 10 Prozent weniger Kosten. Vuforia kann zudem ohne große Fachkenntnisse schnell implementiert werden – sofern die entsprechenden Daten vorhanden sind.

Nach dem TecTalk klang der Abend bei Revier-Tapas und spannenden Gespräche gemütlich aus. (Foto: crossrelations)
Die Vorteile für AR liegen also genauso auf der Hand wie die Hürden, die noch genommen werden müssen, um die Technologie auf Dauer zu etablieren. Allerdings scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis AR den entscheidenden Sprung macht und der Markt regelrecht explodiert. Das Smartphone hat aus der XR-Perspektive eh schon ausgedient. Anstatt auf unsere Smartphones zu starren, sehen wir unsere Welt vielleicht schon bald nur noch durch die AR-Brille – mutieren also von Smombies zu Augmombies.
Was ist der TecTalk?
Der TecTalk Digitale Transformation richtet sich an Führungskräfte von Unternehmen, die in besonderem Maße gefordert sind, die Effekte der Digitalisierung in ihrem Geschäftsmodell zu verarbeiten. Die Initiatoren des TecTalks Digitale Transformation, die Kommunikationsberatung crossrelations brandworks und der Industrie 4.0-Spezialist ITQ, geben mit diesem Format dem notwendigen disziplinübergreifenden Austausch eine Plattform. Die Teilnehmer sollen über Impulsreferate zu jeweiligen Schwerpunktthemen neues Wissen gewinnen und sich darüber unmittelbar untereinander austauschen. Wissenszuwachs und Vernetzungsgewinne sind dabei unvermeidlich.
Ort der Veranstaltung ist das von Norman Foster konzipierte Tec-Center im Duisburger Technologiepark „Tectrum“, heute ein Campus der Innovation und Inspiration für junge wie für etablierte Wachstumsunternehmen.