Groß war der Andrang beim deutschen Launch-Event zur Einführung in die vierte Generation (G4) der Guidelines der Global Reporting Initiative (GRI). Über einhundert Teilnehmer waren der Einladung in den Eschborner „Cube“ der Deutschen Börse AG gefolgt. Als am selben Ort vor knapp drei Jahren eine Anhörung zur damaligen Entwurfsfassung der G4 stattfand und noch konkrete Einflussnahme auf die Endfassung möglich war, hatten sich gerade mal 30 Leute eingefunden.
Der Wake-up Call erfolgte offenbar am 22. Mai 2013 in Amsterdam. Seitdem an diesem Tag die Vorstellung der neuen Guidelines erfolgte, ist es mit Ruhe und Ordnung im deutschen Reporting-Sprengel vorbei. Werden wir uns im Ranking halten können? Müssen wir GRI vielleicht aufgeben? Reicht die Zeit, um uns auf den neuen Standard auszurichten? Solche Fragen bereiten manchem Reporting-Verantwortlichen mittlerweile schlaflose Nächte.
Für Christine Koblun, Network Relations Coordinator bei GRI, muss die Verunsicherung im Raum greifbar gewesen sein. Allen war klar, dass dies nicht mehr die Stunde der Kritik oder Nachbesserung war. Jetzt ging es nur noch darum, G4 richtig zu verstehen und interpretieren zu können. Ein wenig so, wie man sich einem unbekannten Medikament zunächst über den Beipackzettel nähert, führte Frau Koblun das Auditorium mit behutsamer Stimme Schritt für Schritt durch die wichtigsten Inhalte und Eckpunkte des G4-Katalogs. Und Frau Koblun war als Motivatorin gekommen, um mit Geduld und Empathie die Ängste und Skepsis gegenüber dem neuen Regelkatalog abzubauen.
„Das Imperium schlägt zurück“, sagt - weniger einfühlsam - Ralph Thurm. Er muss es wissen. Es gibt wenige, die die Evolution der Guidelines so lange und so intensiv begleitet haben. Der Nachhaltigkeitsberater und Trainer konnte nicht nur in seiner Zeit als GRI COO genauestens beobachten, wie sich Unternehmen auch abseits realer Nachhaltigkeits-Performance auf ein effektives Reporting orientierten. Das von Unternehmen angestrebte Application Level C, B, oder gar A drohte zunehmend zu einer Frage des Abarbeitens einer Abhakliste namens Content Index zu werden. Echte Fortschritte in der Nachhaltigkeitsorientierung drohten in diesem Reporting-Regelkreis auf der Strecke zu bleiben.
Tatsächlich wird G4 einige liebgewonnene Prozesse im Reporting über den Haufen werfen und den Unternehmen einiges Kopfzerbrechen bereiten. Die Referenten machten noch einmal die wichtigsten Herausforderungen deutlich:
- Der Stakeholderansatz und -dialog soll wesentlich transparenter werden. Zukünftig wird es nicht mehr ausreichen, die wesentlichen Anspruchsgruppen aufzuzählen und allgemein auf den „regelmäßigen Austausch“ zu verweisen. Hier wird künftig ein methodischer Ansatz nachzuweisen sein, Stakeholder zu klassifizieren und ihre Erwartungen und Standpunkte stärker im Reporting abzubilden. Eine zentrale neue Herausforderung, in der das Know-how der Kommunikationsprofis im Unternehmen eine wichtige Rolle spielen kann.
- Die Anforderungen an die „Wesentlichkeit“ der Berichterstattung werden deutlich ausgeweitet. Mehr als bisher werden die Prozesse zur Etablierung von Berichtsinhalten Beachtung finden müssen. Der gefürchteten Frage zur Beziehung zwischen Unternehmensstrategie und Nachhaltigkeitsstrategie wird man künftig nicht mehr so leicht ausweichen können. Berichtsgrenzen können nicht mehr willkürlich gezogen werden, sondern müssen sich wie auch in der Darstellung von Managementansätzen (DMA) stärker an den „wesentlichen Aspekten“ orientieren.
- Ein wesentlicher Prüfpunkt des Reportings wird bei G4 die Darstellung der Lieferkettenaktivitäten sein. Diese werden künftig in verschiedensten Dimensionen ausgeleuchtet werden. Das wird für zusätzliche Erschwernisse sorgen, da vor allem kleinere und mittlere Unternehmen in der Regel nicht über die erforderlichen Informationen und Prozesse verfügen.
- Indikatoren werden in G4 „mehrschichtiger“ berücksichtigt werden müssen. Um „in accordance“ zu sein, bedarf es künftig einer konsequenteren Berücksichtigung aller für die wesentlichen Aspekte relevanter Indikatoren. Das kann im Einzelfall bedeuten, dass Kennzahlen herangezogen werden müssen, um sowohl den Status quo, die hiermit verbundenen Auswirkungen wie auch Lösungsansätze zu beschreiben.
Ohne Zweifel wird sich insgesamt die Komplexität der Nachhaltigkeitsberichterstattung ausweiten. Große Unternehmen bereiten sich hinter den Kulissen schon seit letztem Jahr mit Beratern intensiv auf die Umstellung vor. Die Uhr dafür läuft. Denn nach dem 31.12.2015 können nur noch G4-Berichte veröffentlicht werden. Unternehmen sind also aktuell gut beraten, jetzt die Weichen zu stellen und entweder noch einen Bericht nach G3/3.1 zu erstellen oder die Zeit zu nutzen, um sich auf einen fundierten Einstieg in G4 vorzubereiten.
Es bleibt nun abzuwarten, inwieweit bzw. wie schnell der neue Standard sich durchsetzt. In Eschborn war unübersehbar, dass die Szene noch ganz schön mit den neuen Guidelines fremdelt. Die Weiterentwicklung des Rahmenwerks mag gut begründet sein. Harmonisierung globaler Standards, Integrierte Berichterstattung, eine effektivere Sicherung der „Wesentlichkeit“, aber auch ein bisweilen „kreativer“ Umgang mit dem GRI Application Level haben diese Neufassung erforderlich gemacht. Und doch ist auch die Zurückhaltung der Reporter verständlich: Viele haben in ihren Unternehmen viel Überzeugungsarbeit leisten müssen, um die notwendigen internen Prozesse und Monitorings und Ressourcen in den Geschäftsplänen dauerhaft zu verankern. Das GRI-Reporting ist selbst in manch großem Unternehmen noch eine zarte Pflanze, deren Überleben nicht gesichert ist. Auch angesichts der weltweiten Akzeptanz des GRI-Standards sind selbst in den Industriestaaten viele Unternehmen immer noch zurückhaltend in der Veröffentlichung von Nachhaltigkeitsberichten. Besonders kritisch: Bis heute kann GRI noch keine nennenswerte Präsenz in KMUs vorweisen. Die Gefahr ist groß, dass mit der Neufassung und „Institutionalisierung“ der Guidelines praktisch nur noch die Governance-Systeme der großen, börsennotierten Konzerne adressiert wird. In dieselbe Richtung wirken derzeit politische Initiativen zur Pflichtberichterstattung in der EU. Auch hier ist absehbar, dass nur noch Unternehmen, an denen ein „öffentliches Interesse“ besteht, also Konzerne, im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Die meisten mittelständischen Unternehmen, von denen bekanntlich die größte Marktgestaltung ausgeht, drohen hier in der Berichtspraxis abgehängt oder schlichtweg überfordert zu werden.
Unser Chefredakteur für Nachhaltigkeitsberichte, Karsten Pohl, hat einen so interessanten wie subversiven Gedanken aufgeworfen: Könnte es sein, dass Unternehmen, die schon nach GRI berichten, sich dem Übergang auf G4 einfach verweigern und weiterhin nach G3.x berichten? Das könnten sie im Prinzip auch nach dem 31.12.2015 tun, nur ohne das GRI-Label verwenden zu können. Da es die Application Level dann aber sowieso nicht mehr gibt, könnte dieser Verlust zu verschmerzen sein. Und als hochwertiges Kommunikationsinstrument würde der Bericht immer noch seinen wesentlichen Zweck erfüllen.
„The Imperium strikes back“? Es bleibt abzuwarten, ob der jüngste Schuss der GRI nicht nach hinten losgeht.
Empfehlungen zum Weiterlesen: Wer sich mit G4 vertraut machen möchte, muss sich im Wesentlichen durch zwei Publikationen arbeiten. Während in den „Reporting Principles and Standard Disclosures“ (blau) die allgemeinen systematischen Grundlagen und Prinzipien, aber auch die Kriterien für „in accordance“ dargestellt werden, zeigt das „Implementation Manual“ (orange) wie es praktisch vonstatten gehen soll. Beide Dokumente finden sich zusammen mit vielen anderen hilfreichen Angeboten auf den G4-Webseiten der GRI.